Eine Radtour durch Sachsen im August 2001 mit zwei Kindern (Anika 3 1/2 und Titus 4 Monate alt) und zwei Anhängern.
In Deutschland gibt es eine Menge Fernradwege und interessante Landschaften. Da Titus erst vier Monate alt war und wir ihm den Stress der langen Fahrt zum Startort ersparen wollten, sollte unser Ziel mit der Bahn und möglichst ohne Umsteigen erreichbar sein. Uns war klar, dass der Aktionsradius pro Tag um die 20 km liegen würde und wir nicht jeden Tag unterwegs sein könnten. Die Entscheidung fiel uns nicht leicht. Ostfriesland, Main- oder Lahntal? Oder gar das Saarland? Unsere Abenteuerlust siegte und so entschieden wir uns, abseits der ausgefahrenen Radwege in den „wilden“ Osten - durch Sachsen - zu fahren. Mit der Bahn sind wir schnell da
Staunend darüber, dass wir mit zwei
Kindern kaum mehr Gepäck haben als mit einem, peilen wir den Düsseldorfer Hauptbahnhof an. Es gibt einen Fahrstuhl. Nach vier Mal rauf und wieder runter stehen wir am Bahnsteig. Der Wagenstandsanzeiger sagt leider nichts
über die Position des Fahrradwagons aus. Ein freundlicher Bahnangestellter gleicht dies aus. Wir steigen in den Zug und staunen schon wieder. Diesmal, weil man uns sagte, dass alle Plätze mit Tischen
bereits reserviert seien und dieser Zug nur über Großraumwagen und keine Mutter-Kind-Abteile verfügt. Außer unseren, sind keine Plätze reserviert und die Abteile befinden sich weiter vorne. Die
sechs Stunden Fahrt vergehen wie im Flug und schon warten auf dem Leipziger Bahnhof unsere Freunde - Jana und Ludger. Der Bahnhof ist gigantisch. Überall Glanz und Luxus. Die Räder mit
Anhängern lassen sich ganz leicht auf Rollbändern auf jede Etage transportieren. Wir erinnern uns an unsere letzte Fahrt durch Italien (www.39grad.de), wo wir in einem kleinen neapolitanischen
Vorstadtbahnhof all unser Zeug mehrmals schweißgebadet in aller größten Eile über Treppen tragen mussten. |
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Die 22 Kilometer bis Albrechtshain fahren Katja, Titus und Jana mit dem Auto. Ludger übernimmt Katjas Rad. Es ist sehr heiß. Mir fällt auf, dass es hier sehr viele Radfahrer gibt. Die Vorstadt ist bunt und interessant, erinnert etwas an die besetzten Häuser der 80er-Jahre. Wir verlassen die Stadt. Es wird zunehmend ländlicher. Die goldenen Getreidefelder rauschen im Wind und duften nach Sommer. Die Sonne steht schon tief und färbt sie rot. Es ist schön und still. Wir bleiben drei Tage bei Freunden, bis Titus sich an die neue Situation gewöhnt hat. Es ist noch eine andere Familie mit zwei Kindern zu Besuch da. Wir zelten im Garten unter Apfelbäumen. Titus ist übermüdet, kann jedoch nicht schlafen und kämpft mit seiner Umstellung. Auch kurze Fahrten mit dem Anhänger oder einen Ausflug mit dem Auto macht er nicht mit. Wir zweifeln an unserem Vorhaben. Am dritten Tag radeln wir los. Nach 500 m finden wir uns mit einem weinenden Baby auf dem Arm am Straßenrand wieder. Es ist zum Heulen. Sollten wir zum nächsten Bahnhof und dann nach Hause fahren? Etwas Trösten und Kuscheln hilft. Nach dem Stillen bleibt Titus ruhig in seinem Anhänger liegen und schläft bald ein. Wir ändern unsere Pläne und steuern den nächsten Campingplatz an. Ruhig geht es los und es funktioniert! Zwar stimmt die ADFC-Karte nicht, aber wir finden unseren Weg, der uns zu den Lübschützer Teichen bei Machern führt. Sie liegen malerisch in der Endmoränenlandschaft des Muldentales. Es ist eine kleine Wochenendhaussiedlung, gegründet in den 20er-Jahren von einem Künstler. Im angrenzenden Wald liegt ein naturbelassener Campingplatz, nur wenige Meter von einem Teich entfernt. Alles ist recht improvisiert. So stelle ich mir die frühere DDR vor. Wir finden sogar noch eine auf Recyclingpapier gedruckte alte DDR-Broschüre. Aus den Lautsprechern dröhnen die Puhdys. Anika entdeckt das Wasser und verlässt es erst kurz vor der Dunkelheit. Ich habe Fieber. Mein größter Wunsch ist Schlafen. Doch das soll nicht sein. Irgendwann in der Nacht wechseln die Puhdys gegen extreme Neonazi-Musik. Hitlerparolen fallen, das Bier fließt in Strömen. Es kommt mir vor wie ein schlechter Traum. Ich bin wach und doch ist es ein Albtraum, denn ich muss zuhören wie ausländerfeindliche Lieder gegrölt werden. Wie gelähmt erinnere ich mich an Fernsehberichte über Vorfälle auf Campingplätzen und bin schockiert, dass das alles tatsächlich wahr ist. Angst erfasst uns, wir können nicht mehr ruhig schlafen. Nach meiner Beschwerde bei der Campingplatzleitung zieht man ihnen kurzerhand den Stecker. Am nächsten Tag kommt noch eine zweite Gruppe hinzu. Nachts ist die Musik zwar etwas leiser, dafür bekommen wir lautstarke Diskussionen über Hitler und Juden mit. Die meisten geben nur die ihnen eingetrichterten Ideologien wieder, aber das macht sie gefährlich. Einer heult fast, als er von einer in Deutschland illegal lebenden russischen Familie erzählt.
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Trotz meines Fiebers ziehen wir weiter. Mein Bild über dieses Land ist erschüttert und von nun an braun gefärbt. Die leichten Hügel kommen mir vor wie hohe Berge. Ich bleibe einige Kilometer hinter Katja. Sie wundert sich nur. Von der Landschaft bekomme ich nicht viel mit. Hier schlängelt sich die Mulde und bildet Seitenarme. Wir kreuzen den Muldentalradweg und gelangen nach Eilenburg. Der Campingplatz liegt an einer Kiesgrube mit smaragdgrünem Wasser. Die Leute sind freundlich. Ich frage nach einem ruhigen Platz und schon fahre ich dem Platzwart, den ich kaum verstehe, hinterher. Wir bekommen den entlegendsten Platz hinter einem campierenden Kinderheim. Tatsächlich, es ist ruhig! Schnell kommen wir ins Gespräch. Ein Betreuer versichert mir, dass hier die Nazis schon seit Jahren keine Chancen haben. Der See ist schön, fast wie ein Meer. Es gibt eine Wasserskianlage. Der Stress und das Unwohlsein verlassen uns langsam aber sicher. Es ist Samstag und auf dem Platz gastiert eine mobile Disko. Der Bass trommelt gegen die Zeltwand. Aber Techno ist für unsere Ohren viel angenehmer als Nazigegröle. Wir schlafen tief. Der nächste Tag beginnt ruhig und angenehm. Wir faulenzen, schwimmen, mein Fieber ist vorbei.
Es ist wieder Urlaub. Das Wetter ändert sich. Hin und wieder bekommen wir einen Regenguss, so dass wir im Zelt kochen müssen. Nach dem der dritten Tag, der uns geschenkt wird, fahren wir dann in Richtung Dübener Heide.
Durch Wälder, Moore und Wiesen Da Titus bei größeren Erschütterungen des Anhängers, trotz der eingebauten Federung, protestiert, nehmen wir lieber einen Umweg über die 25 km lange asphaltierte Straße in Kauf. Die Felder duften nach frisch geerntetem Getreide. Sonnenblumen lachen uns an. Der Sommer liegt schwer in der Luft und die Sternschnuppenzeit naht. Schon bald umhüllt uns der Geruch der feuchten Erde und die Würze des Mischwaldes. Winzige Waldsiedlungen huschen an uns vorbei. Wir bemerken kaum das Gewicht von Gepäck und Anhängern. Kurz vor Pressel, auf einem kleinen von Dauercampern besetzten Platz - wieder an einem Teich - bleiben wir. Hierhin verirrt sich selten ein Tourist. Es gibt nur 7 (geheime) Zeltstellplätze. In der Stille des Waldes schlagen wir für die nächsten zwei Tage unser Lager auf. Titus liegt unter Bäumen und strahlt. Anika tollt herum. Es ist eine Gelegenheit, mich aufs Rad zu setzen und ohne Gepäck, die auf der Karte eingezeichneten Hügelgräber zu suchen. Vorbei an einem Waldlehrpfad, an einem Verlobungsfindling, den ich nicht finde, an Bäumen, deren Alter das eines Menschen um ein Vielfaches übersteigt, geht es weiter durch das Moor. An der vermuteten Stelle biege ich ab und lande schließlich auf einem schmalen Pfad. Das kann nicht sein, die Karte täuscht mich, denn der Weg ist als asphaltiert eingezeichnet. Ich kehre nicht um und versuche blind weiter mein Glück. Hier hätte ich Stollenreifen gebraucht. Trotzdem komme ich gut voran. Matsch spritzt links und rechts und erfrischt mich ein wenig. Nach etlichen Kilometern sehe ich einen Hügel. Der erste Gedanke: ein Hügelgrab. Diesen verwerfe ich schnell und halte erst nach einer weiteren Viertelstunde an. Ich habe die Orientierung verloren. Stopp! Pause! So geht es nicht weiter! Meine Wasserflasche ist leer. Schokolade bringt etwas Energie. In Ruhe studiere ich die Karte und bekomme eine Erleuchtung. Das waren sie die Hügelgräber! Ich fahre zurück. Tatsächlich! Die umherliegenden Steine deuten darauf hin. Jemand hat die eine Seite des Hügels aufgegraben. Große Steine sind sichtbar. Das muss er sein. Der andere Hügel ist mit Farnen bewachsen, die den Inhalt behüten. Den Dritten suche ich erst gar nicht. Es ist schon spät, aber ich will die Nesselburg noch finden. Rauf aufs Rad, die Karte zwischen den Bowdenzügen geklemmt. Intuitiv folge ich den schmalen Wegen durch den Irrgarten des Waldes. Eigentlich dürfte ich bald gar nicht mehr wissen, wo ich bin. Da taucht schon die Nesselwiese auf! Ich steige auf einen Hochsitz und sehe einen verwunschenen Wald und eine, von der tief stehenden Sonne, in Gold getauchte Wiese. Johanniskraut blüht, wie überall hier. Vor mir liegt die Wallanlage. Sichtbar sind die zwei von Erdwällen umringte Kuppen. So groß wie ein halbes Fußballfeld, muss diese Burg eine Menge Menschen beherbergt haben. Auf der Wiese sammele ich noch sonnengetränktes Johanniskraut. Genau so wie ich hierhin gefunden habe, finde ich wieder heraus. Der Duft feuchter Erde steigt mir in die Nase, wenn ich durch die vielen Pfützen fahre.
Nach meiner Rückkehr habe ich Glück!
Katja und Anika sitzen vor dem Zelt, das Essen ist gerade fertig geworden und ich bekomme auch etwas. Wie schön, so ein einfaches Leben. Wozu brauchen wir einen Kühlschrank? Wozu brauchen wir eine
Küche? Auf dem Trangia lassen sich die leckersten Gerichte zaubern. Die Sonne geht rot hinter den Bäumen unter. Hier bleiben wir noch. Es wäre zu schade einfach weiter zu fahren. Es gibt nicht mehr viele solche Wälder.
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Dann wird es wieder Zeit. Schnell ist alles gepackt und wir radeln durch Wald, Moor und Wiesen. In einem winzigen Dorf halten wir an einer Wassermühle, die noch bis in die 60er-Jahre Getreide gemahlen hat. Weiter geht es in Richtung Elbe. Bei Dommitsch schlagen wir unser Zelt auf. Abends gesellen sich einige Elberadler hinzu. Dommitsch ist eine kleine Stadt. Außer einem Supermarkt gibt es hier nicht viel. Dort lernen wir die Vorzüge des Kinderwagensets kennen und ernten beim blitzschnellen Umbau neugierige Blicke, die wie so oft in Gesprächen enden. Weiter geht es auf dem Elberadweg flussaufwärts in Richtung Torgau. Der Weg schlängelt sich zwischen den Altarmen. Manchmal fahren wir sogar in die entgegengesetzte Richtung. Der Himmel verdunkelt sich. Um eine Bleibe zu suchen ist es schon zu spät und so fahren wir durch den Regen. In Torgau wird unsere Karawane auf dem Wochenmarkt bestaunt und auf dem Campingplatz am großen Teich mit Handschlag begrüßt. Auch hier finden sich abends wieder einige Elberadler zusammen. Auch Familien mit selbstradelnden Kindern sind dabei. Am Wochenende kommen uns Jana und Ludger besuchen. Wir erkunden zusammen die Stadt. Die Burg Hardenstein beherbergt in ihrem Graben einige Bären, die hospitalisierend zu den Touristen hinaufschauen. Die Frau Luthers lebte in dieser Stadt. Ihre Stube kann man besichtigen. Nachmittags ist der Marktplatz ziemlich leer. Nur bepackte Elberadler sieht man immer wieder. Abends grillen wir, schauen zu dem kristallklaren Himmel auf, bewundern die Sternschnuppen und haben eine Menge Wünsche. Hier beschließen wir Torgau zu unserem Wendepunkt zu machen. Von hier aus fahren wir noch einige Kilometer durch die Dahlener Heide, um dann weiter mit der Bahn nach Leipzig zu fahren. Auf diese Stadt sind wir echt gespannt. Doch vorher geht es noch nach Schildau, das für die Schildbürgerstreiche verantwortlich sein soll. Unterwegs trennen wir uns. Katja fährt mit Titus den kürzesten Weg und ich mit Anika sehe mir noch eine Wallanlage an. Die weidenden Kühe ahnen nicht, dass an dieser Stelle einmal Menschen gelebt haben. Wir füttern Pferde und radeln durch den Regen. Katja treffen wir in einer Kabine des Campingplatzes und Freibades, des ehemaligen Freizeitlagers „Freundschaft“. Während sie stillt, baue ich das Zelt auf. Bis auf ein paar Dauercamper, die uns sehr zuvorkommend über die Selbstversorgungsmöglichkeiten aufklären, sind wir hier allein.
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Der Campingplatz ist groß. Wir bekommen ein schattiges Plätzchen zugeteilt. Sogar den Schlüssel für den Wickelraum bietet man uns an, aber im oder am Zelt zu wickeln ist einfacher. Also bedanken wir uns herzlichst. In einem klimatisierten Stadtbus fahren wir ins Zentrum. Wir schlendern durch die Straßen mit südländischem Flair. Die Innenstadt ist fast vollständig restauriert. Das Leben spielt sich draußen ab. Die Straßencafés sind mit Menschen gefüllt. Verlässt man den Innenstadtbereich, ist es leichter eine Vorstellung zu bekommen, wie diese Stadt während der DDR-Zeit ausgesehen hat. Neben Häusern, die vor über 50 Jahren sicher prachtvoll ausschauten, stehen Betonklötze aus den 70ern. Auch Sprayer haben hier kein Halt gemacht. Alles ist bunt, teilweise von den Hausbesitzern auch so gewollt. Schöne Grafitys zieren so manche Wand. Vor allem blüht hier die Subkultur, wie einst in den westdeutschen Städten der 80er-Jahre. Vieles ist nicht so perfekt. Hier können die Menschen gut improvisieren. Die Fantasie zählt. Leider sind auch diese drei Wochen zu Ende. Wir müssen zurück. Damit wir nicht am Wochenende in dem überfüllten IC fahren müssen, entscheiden wir uns am Donnerstag zurückzufahren. Doch leider gibt es weder Plätze mit Tischen noch Mutter-Kind-Abteile. Unsere Anhänger finden auch keinen Platz. Wir fahren trotzdem. Bis zu Abfahrt haben wir noch einige Stunden Zeit. Diese verbringen wir zum Teil liegend unter uralten Eichen im Park. Titus ahmt die Nebelkrähen nach, Anika sammelt ihre Federn. Wir fahren noch eine Runde mit den Rädern durch die Innenstadt. Das ist hier gar kein Problem. Ãœberall sind Fahrradständer zu finden. Niemand regt sich darüber auf, dass hier Fahrräder durch die Fußgängerzonen fahren. Wir entdecken einen arabischen Imbiss und decken uns für die Fahrt mit Falafel und Halumi ein. Währenddessen regt sich jemand über den Transport eines Babys im Anhänger auf. Man befürchtet einen grausamen Tod durch Ersticken. Titus strampelt dabei fröhlich. Und schon wieder genießen wir die Vorzüge des Leipziger Sackbahnhofs. Rollband rauf und wir stehen am Bahnsteig. Der Zug wartet schon. Da keimt aber schon wieder der Ärger mit die Bahn auf. Es stellt sich wieder heraus, dass außer unseren keine weiteren Plätze reserviert sind. Später erfahren wir auch, dass es doch Abteile gibt. Die Fahrt wird sehr anstrengend. Anika ist übermüdet, schläft wegen der Aufregung aber nicht ein und hindert auch Titus beim Einschlafen. Auch wir haben keine Ruhe und sind voller Anspannung. Erst später schläft Anika auf meinem Schoß wie ein Stein ein. Diese Ruhe nutzt auch Titus, der gelegentlich durch die Ansage der Haltepunkte geweckt wird. Doch dann im Tragetuch bei Katja am Bauch schläft er die letzten Stunden ruhig. Wir sind froh, als wir nach sechs Stunden in Düsseldorf aussteigen können. Der Schaffner hilft uns beim Auspacken und wünscht uns noch eine gute Heimfahrt. Von hier aus sind es nur 3 Kilometer. Es ist immer noch eine warme Sommernacht, obwohl unterwegs uns graue Wolken und starke Regengüsse begleitet haben. Ich habe gar keine Lust zurück in eine Wohnung und in ein Bett. Für Titus ist es eine Wohltat. Er schläft in seinem Stubenwagen sofort tief ein und Anika folgt eine kurze Zeit später. Und wir? Wir schauen zurück auf die schönen, lehrreichen und anstrengenden Wochen zurück und müssen erst begreifen, dass wir wieder zu Hause sind. © Waldemar Piontek
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