Ich erinnere mich an meine letzte Fahrradreise entlang der türkischen Ägäis-Küste. Bergauf, bergab. Spartanisch ausgerüstet mit einem Schlafsack, einem Minizelt, etwas Werkzeug und viel Lust, Neues zu erleben. Viele nette Menschen habe ich getroffen und eine tolle Landschaft erlebt. Durch die „Langsamkeit“ des Rades habe ich das alles viel intensiver wahrnehmen können. Das Fahrrad war für mich schon als Kind ein Mittel, um meine Freiheit auszuleben. Doch damit sollte jetzt Schluß sein. Unsere Tochter Anika, 8 Monate alt, veränderte mein Leben. Spontanität wurde durch Organisation ersetzt. Das sollte auch für den Urlaub gelten, glaubte man anderen Eltern. Die Meinung, daß ein Säugling einen festen Platz, einen Wickeltisch, ein Bett, eine Badewanne und viele andere Dinge braucht, ist weit verbreitet. Entweder man schleppt es mit oder sucht ein Reiseunternehmen, das eine Ferienwohnung oder ein Hotelzimmer mit dem ganzen Zeug anbietet. Dabei wird man eine Menge Geld los, und beweglich ist man dann auch nicht. Damit wollten wir uns wirklich nicht anfreunden. Ein Monat zuvor kauften wir einen Fahrradanhänger. Den vorhandenen Sitz habe ich durch eine Baby-Autoschale ersetzt, die ich am Rahmen federnd aufgehängt habe. Zusätzlich verpaßte ich der Radaufhängung eine richtige Federung und reduzierte den Luftdruck. So erlangten wir unsere Radbeweglichkeit, die uns gefehlt hat, zurück. Anika fühlte sich wohl. Wir auch. Die Lösung: ein Fahrradanhänger Und so zogen wir los. Zuerst mit dem Auto von Düsseldorf in Richtung Rostock. Dort wollten wir es abstellen und weiter mit dem Rad fahren. Statt nach sechs oder acht Stunden sind wir erst nach zwölf Stunden angekommen. Von Staus hatten wir genug. Endlich haben wir den Campingplatz erreicht. Ein riesiger Platz mit Animation. Genau das, was wir nicht wollten. Informationen über Campingplätze waren in unseren Reisebüchern spärlich. Aber wie Kurt Tucholsky schon sagte: ”Entwirf Deinen Reiseplan im Großen und laß Dich im Einzelnen von der Stunde treiben”. Also egal, es soll nur für eine Nacht sein. Ich baue das Zelt auf. Es beginnt zu regnen. Der Regen entwickelt sich zu einem Wolkenbruch. Aber ich bin schneller. Das Zelt steht, noch bevor sich die Wolken richtig entleeren können. Die Spannung und der Streß des Tages verlassen uns. Anika bekommt die Brust und ist müde. Wir auch. Die erste Nacht im Zelt: Katja hat aus einer Decke und den Packtaschen ein Nestchen für Anika gebaut. Der Spieluhr-Mond hängt am Zelthimmel und der Beißring auch. Es ist fast wie zu Hause. Anika und auch bald wir schlafen ein
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Zelt, das neue Zuhause Der erste Tag im Zelt: wir wachen auf und frühstücken. Anika scheint es zu gefallen. Das Zelt ist eine große Spielwiese. Alles ist weich. Sie kann aus ihrer wackeligen Sitzposition einfach umkippen und es tut nicht weh wie zu Hause auf dem harten Fußboden. Wir verlassen den Campingplatz, mit dem Auto. Katja will erst einmal einen Platz finden, wo wir ein paar Tage bleiben können, bis Anika sich ans Zelten gewöhnt hat. Es gefällt mir nicht. Am liebsten würde ich alles aufs Fahrrad packen und losfahren. So war das vor Anikas Geburt. Es stellt sich heraus, daß Katjas Idee ganz gut war. Der nächste Campingplatz ist ausgebucht. Der übernächste auch. Der Mut verläßt uns. War es ein Fehler, eine Fahrradreise mit einem Säugling zu unternehmen? Hätten wir alles planen sollen? Wäre es notwendig, schon zu Hause zu wissen, wo wir übernach ten? Auf dem dritten Campingplatz haben wir Glück. Wir stellen unser Zelt windgeschützt zwischen Bäumen und Sträuchern auf. Der Platz ist schön. Zum Strand sind es nur einige Meter. Eine Menge Kinder sind hier. Anika hat Spaß. Wir denken, daß die Entscheidung mit Anika zu zelten richtig ist. Nach vier Nächten packen wir alles zusammen und fahren weiter nach Prerow. Anika schläft bald ein. Der Radweg ist schön. Er führt am Bodden-Ufer entlang. Die Sonne scheint über dem Schilf und glänzt auf dem Wasser. Wir fühlen uns gut und sind froh, daß wir die Räder und das Zelt nicht gegen irgendein Hotelzimmer eingetauscht haben. Nach zwei Stunden erreichen wir Born, ein kleines verschlafenes Dörfchen mit schilfgedeckten Häusern am Boddenufer. Katja stürzt an einer hohen Kante eines Plattenweges und verletzt sich am Knie. Wir legen eine Pause ein. Mit dem Anhänger zu fahren ist es auch nicht einfach. Es sind bestimmt 30 kg, die ich da ziehe. Auf eine merkwürdige Weise gelangte alles Sperrige und Schwere in den Anhänger. Richtig schwierig wird es aber erst im Darßer Urwald. Der Weg ist schmal und kurvig. Mit einem Anhängerrad streife ich einen Baum. Anika erschrickt und schreit. Wir legen wieder eine Pause ein. Der Weg wird immer sandiger. Solange ich meine Geschwindigkeit beibehalte, bleibe ich in Spur. Der nächste Campingplatz liegt mitten in den Dünen, ist aber riesig. Überall Sand: auch im Zelt, bald in Anikas Händen, Mund und später auch in der Windel. Anika hat Spaß. Sie läßt den Sand zwischen ihren Fingern gleiten, versucht, ihn in den Mund zu nehmen. Es gibt soviel Neues um sie herum. Beim Anblick einer Möwe, eines Hundes oder eines Kindes gerät sie in Begeisterung.
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Einmalige Landschaft Darß ist eine einmalige Gegend. An der nördlichsten Spitze der Halbinsel liegt ein Naturschutzgebiet. Vom südlich liegenden Fischland wird Land abgetragen und hier aufgetragen. Bis auf einen Sporthafen, der früher ein DDR-Militärhafen war, wird die Natur hier nicht gestört. Auf Holzplanken kann man durch die Dünen wandern und den Anlandungsprozeß bestaunen. Die Ferien hier gehen zu Ende. Das schöne Wetter auch. Es wird schlagartig leer. Wir bleiben. Das Zelt übersteht Windstärke 7 ohne Probleme. Wir auch. Nachts wir es erheblich kälter als in den letzten Tagen. Anika haben wir dick angezogen, damit sie nicht friert. Es sind 9 °C. Tagsüber schläft sie im Anhänger oder auf meinem Rücken im Tragetuch. Am Tag des Aufbruchs nach Zingst hält uns Regen auf. Wir suchen Zuflucht in der Seemannskirche. Hier ist es trocken und gemütlich. Anika wird gewickelt und gestillt. Die Seeleute hätten bestimmt nichts dagegen. Schon bald scheint wieder die Sonne. Zingst gefällt mir nicht so gut. Alles ist auf Touristen ausgerichtet. Das neue Hotel paßt nicht zum Erscheinungsbild der reetgedeckten Häuser. Wir verbringen noch fast einen ganzen Tag im Zelt. Es regnet. Wir lesen und faulenzen, Anika rollt sich durch die Gegend. Der nächste Tag ist wieder wunderschön, eine Gelegenheit, weiter zu radeln. Es ist anstrengend. Uns bläst ein starker Wind entgegen. Den Bodden haben wir inzwischen fast umrundet und fahren nun in die entgegengesetzte Richtung. In einem stillen Hafen treffen wir zwei mountainbikende Väter in meinem Alter. Sie interessieren sich für unseren Anhänger. Einer von ihnen erzählt uns, daß sie mit einem 14monatigen Kind zelten. „Es klappt sehr gut. Die kleine hat eine Menge Spaß“. Das hätte er vorher nicht gedacht und hätte mit mehr Schwierigkeiten gerechnet. Das freut uns, denn unsere Erfahrungen sind ähnlich. Der südliche Boddenweg ist viel einsamer als der auf Darß. Wir sind die einzigen Radfahrer. Es sind leichte Hügel zu bewältigen, die bei Gegenwind und 30 kg doch nicht so leicht sind. Wir haben genug und beeilen uns. Ausgerechnet da stimmt jetzt die Karte nicht. Wir fahren - wie wir später feststellen - einen Umweg. Der Waldweg ist matschig und voller Pfützen. Ich fahre mittendurch.
Nach zweieinhalb Wochen erreichen wir den Campingplatz an dem wir unser Auto gelassen haben. Der Platz und der Strand sind leer geworden. Der Sommer ist vorbei. In einem Supermarkt habe ich ein Kind sagen hören: ”Mama, brauchen wir noch Sonnenschutzmittel?“ Sie antwortete: ”Nein, der Sommer ist vorbei, nächstes Jahr wieder.“ Es ist Ende August. Wir sind froh, daß alles so gut geklappt hat. Es gibt uns Mut, es im nächsten Jahr mit Sizilien aufzunehmen. ã Waldemar Piontek
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