Neapel, Piazza Garibaldi. Um uns tobt der Abendverkehr. Im Touristenbüro nimmt sich ein deutsch sprechender älterer Herr über eine halbe Stunde Zeit und erklärt uns alles Mögliche. Er will uns zwar unbedingt eine bestimmte Unterkunft auf der Insel Procida schmackhaft machen („Camping ist nichts für eine junge Familie“), beantwortet uns aber sonst jede Frage. Mit einem Stadtplan stürzen wir uns in den Verkehr. Im Hafen, wo es etwas ruhiger ist, legen wir eine Beratungspause ein und beschließen in das benachbarte Pozzuoli zu fahren. Laut Auskunft eine drei viertel Stunde entfernt. Der Verkehr reißt uns wie eine Welle mit. Ampeln sind hier völlig überflüssig. Man fährt, wenn Platz ist. Alles geht so schnell, dass wir kaum blicken können. Wir werden überholt, links rechts, wie es geht. Wir passen uns an und treten kräftig in die Pedalen oder bremsen. Trotzdem sind alle sehr rücksichtsvoll. Teilweise haben wir eine ganze Spur für uns alleine oder teilen uns die mit unzähligen Motorrollern. Manche Fahrer dieser Vehikel telefonieren während des Fahrens. Ganze Familien mit bis zu vier Personen finden darauf Platz. Für uns sehr fremd und exotisch. Aber umgekehrt ruft unsere kleine Karawane nicht weniger Aufsehen hervor. Staunende und freundliche Gesichter schauen durch offene Autofenster. Motorroller umschwärmen uns „Wie gähjts?“ höre ich oft. Ein Fahrer versucht im vollen Tempo sogar seine Sozia dazu zu bringen, mit uns deutsch zu sprechen. Wir rasen im Rausch und merken nicht, dass wir seit längerer Zeit nur noch bergauf fahren. Einige Tage mit dem Rad durch Neapel und wir können als Fahrradkuriere in New York anfangen. Die drei viertel Stunde ist längst vorüber. Das Adrenalin und die Endorphine beherrschen unsere Körper. In den kurzen Orientierungspausen werden wir auch noch in Gespräche verwickelt. Hier fährt kaum jemand Rad, aber alle finden es gut. Von Aussichtspunkten werfen wir einen Blick zurück auf Neapel. Die tief stehende Sonne färbt den Vesuv rot. Vor uns die Inseln Ischia und Procida.
Pozzuoli erreichen wir nach über 30 km und 2 Stunden Fahrzeit. Nach der letzten kräftigen Steigung sind wir völlig erledigt. Zum Glück ist es nicht mehr weit. Der Campingplatz liegt in einem Krater, ist grün und viele Einzelzelte stehen hier. Anika fällt zuerst über die vielen Katzen her. Der Vulcano Solfatara wird für die ganze Woche unser Zuhause und Ausgangspunkt zur Erkundung der Gegend. Gleich nebenan zischt es und es riecht es nach Schwefel. Schon die Römer nutzten diesen Krater zu Heilzwecken. In den Fangaia brodelt ein 170 bis 250 °C heißer Schlamm und die Schwefeldämpfe der Fumarolen wurden eingeatmet und zur Beheizung von Schwitzkammern benutzt. Zwei davon zeugen noch heute von einem regen Kurbetrieb der vergangenen Zeiten. Vor allem abends fühlt man die aufsteigende Wärme in dieser Mondlandschaft. Der Boden klingt hohl. Kinder verbuddeln ein paar Hühnereier in der weißgelben Kruste. Nach zehn Minuten sind sie hartgekocht. Zu sehen gibt es hier wirklich Einiges. Alle 10 Minuten quetscht sich ein Bus in die Innenstadt von Neapel. Fahrpläne gibt es nur in der Theorie. Niemand kann uns sagen, wann genau der Bus fährt. Die einzige Antwort ist, alle 10 Minuten. Es ist aber auch kein Wunder, denn der Bus braucht zwischen 20 Minuten und einer Stunde je nach Verkehrsdichte. Die Innenstadt ist eng Die Häuser sind sehr alt und brüchig. Manche sind gegen Einsturz mit Holzbalken gesichert. Hierhin verirrt sich wohl kaum ein Tourist. Überall flattert Wäsche im Wind zum Trocknen. Der erste Eindruck erinnert mich an einen orientalischen Basar. In jeder Straße werden andere Waren angeboten. Anika ist über die lebendigen Krebse an einem Fischstand entzückt. Dass wir nicht im Orient sind, merken wir an den vielen Madonnen und Kreuzen. Mit einer riesigen, bis jetzt der besten Pizza, für umgerechnet 2 Mark wappnen wir uns für den Fußweg durch die Gassen der Altstadt. Mopeds und Motorroller rasen zwischen den Fußgängern. Ein Wunder, dass nichts passiert. Hin und wieder versucht es auch ein Auto oder Minilaster mit eingeklappten Spiegeln. Auf den Piazzas tauchen antike Ausgrabungsstellen auf. Noch bevor die Griechen sich im 8. Jahrhundert hier ansiedelten, lebten hier Menschen. Ein Tag ist sehr schnell um. Was sagte der Mann in der Touristen-Information? Es gibt nicht viel Sehenswertes in Neapel! Noch zwei Mal fahren wir mit dem Bus oder der Metro in die Innenstadt und nehmen uns ganz fest vor später, wieder für mindestens eine Woche hierhin zurück zu kehren. Wir entdecken immer Neues und sind fasziniert von dieser morbiden lebendigen Stadt, deren Herz so schnell pulsiert wie meines nach zehn Tassen Espresso. Auch in den nobleren Gegenden ist nichts so rausgeputzt wie bei uns. Neben Armani-Anzügen im Schaufenster fällt der Putz von der Fassade. Und überall reden die Menschen miteinander laut und gestikulierend. Niemand steht alleine an einer Bushaltestelle. Nicht selten entstehen spontane Diskussionen. Nur Schade, dass wir so wenig verstehen. Pozzuoli und Umgebung erkunde ich alleine mit dem Fahrrad. In der Stadt befindet sich das Flavische Amphitheater, in dem man die unterirdische Gladiatoren- und Raubtiergänge noch sehr gut erkennen kann, und der Serapis-Tempel nicht weit des Hafens. Am Lago Averno, einem Kratersee, der bei den Griechen der Eingang zur Unterwelt war, komme ich zur Ruhe und schreibe Karten bis eine Schlange unter meinen Beinen durchhuscht. Vor Schreck springe ich in die Luft und lasse alles ins Wasser fallen. Das arme Tier erschreckt sich mindestens genauso und verschwindet im See. Nicht weit von hier liegt die Sybillengrotte. Die Prophetin treffe ich jedoch nicht an. Noch ein letztes Mal Neapel, eine auf dem Spirituskocher selbstgebackene Pizza, einen geflickten Reifen und es geht am nächsten Morgen wieder abenteuerlich zurück nach Hause. Beim Anblick unserer Gefährte schließt ein Bahnangestellter das Tor zum Bahnsteig auf. Leider nützt es nichts. Unser Zug geht von einem anderen Bahnsteig. Also Treppe runter, Treppe rauf. Als wir ankommen verlässt der Zug den Bahnhof. Der nächste Zug fährt ein, leider auf einem anderen Gleis! Katja hält den Zugführer mit einigen Brocken Italienisch auf. Er ist bereit etwas zu warten. Und schon wieder die Treppe runter und rauf. Als alles im Zug verstaut ist, sind wir klitschnass. Dafür ist es einfacher den Hauptbahnhof in Neapel zu verlassen. Es gibt eine Rolltreppe. Zum Flughafen würden wir gerne den Bus nehmen. Das geht nicht. Also radeln! Wir haben nur noch diesen Horrorberg in Erinnerung, der zum Flughafen führt. Zum Glück ist der Weg kürzer als wir dachten und unsere Kondition besser, so dass wir pünktlich am Flughafen sind. Wir stehen als erste und checken trotzdem zuletzt ein. Niemand weiß genau, wie Fahrräder eingecheckt werden und so stehen wir über eine Stunde herum. Glücklich sind wir, als wir im Flugzeug sitzen, aber auch etwas traurig. Hinter uns liegen vier
erlebnisreiche Wochen. In Deutschland regnet es. Den Weg vom Flughafen nach Hause legen wir mit den Rädern zurück. Anika vermutet hier ein neues „Urlaubshause“ und freut sich um so
mehr, als sie entdeckt, dass wir wirklich zu Hause sind. |